Olga Sidor.

Die Pennerin und die Ukraine.

 

Ich kam nach Freiburg an einem verregneten Donnerstag vor sechs Jahren. In der Tasche hatte ich lediglich acht Mark, aber das war nicht tragisch: erstens war ich eine Stipendiatin und demzufolge stand mir ein Stipendium zu, und zweitens kannte ich in Freiburg schon ein paar Leute. Und wie ein russisches Sprichwort besagt: “Habe nicht 100 Rubel, habe lieber 100 Freunde”.  Mit dem Stipendium hat mich die Bank auf später vertröstet: es war nämlich noch  nicht Oktober, der Oktober begann erst am Samstag, Montag war wegen der deutschen Einheit Feiertag, das heißt, bis Dienstag mußte ich warten. Der Vermieterin machte es nichts aus, und wegen meines sonstigen Bedarfs  rief ich meine Freundin Dagmar an und bat sie um 100 Mark bis Dienstag. Wir verabredeten uns auf dem kleinen Platz zwischen  KG-I und KG-IV und wollten danach zusammen in die Mensa gehen. Ich dachte immer noch in  Lemberger Großstadtkategorien, nahm mir viel zuviel Zeit für den Weg vom Stühlinger in die Innenstadt und kam viel zu früh. Es war Mittag, Mensazeit, die Studis eilten zur und von der Mensa. Ich setzte mich auf einen Stein. Es regnete nicht mehr, aber es war grau und naßkalt. Es dauerte nocht lange, bis eine Pennerin zu mir kam Ich kann sie ganz schlecht beschreiben, und das Problem ist dabei nicht, daß seitdem schon sechs Jahre vergangen sind. Auch damals, als ich in ihr geschwollenes Gesicht schaute, konnte ich ihr Alter nicht feststellen. Sie hätte so alt wie ich damals, also Ende zwanzig, aber genau so gut auch meine Mutter sein können. Am einfachsten wäre es, zu schreiben: es war halt eine typische Pennerin, aber das wäre nicht korrekt, weil ich erstens damals so etwas noch gar nicht hätte denken können, denn ich hatte noch keine deutschen PennerInnen gesehen und insofern auch kein klares Bild vor Augen, wie eine deutsche Durchschnittspennerin aussieht (In Osteuropa sehen sie anders aus oder täusche ich mich?) und zweitens, ehrlich gesagt, weiß ich das auch jetzt nicht, gerade weil ich inzwischen so viele deutsche PennerInnen im Leben wie im Kino gesehen habe. Wie dem auch sei, meine erste Pennerin kam auf mich zu und fragte ohne Umschweife: “Haste mal ´ne Mark?” “Nein”, antwortete ich überzeugt , “ich habe selbst nur 8 Mark in der Tasche, die bis Dienstag reichen müssen” und log nicht mal dabei, denn die 100 Mark von Dagmar waren noch nicht in meiner Tasche. Die Pennerin nickte verständnisvoll und setzte sich auf den Stein in einer rücksichtsvollen Entfernung von mir. Nach einer Weile zündete ich mir eine Zigarette an. Ob sie auch eine Zigarette haben könnte, fragte die Pennerin. “O ja,”  antwortete ich  “ Zigaretten habe ich aus der Ukraine genug reingeschmuggelt, und die sind bei uns recht billig”. Die Pennerin nahm sich eine und begann zu rauchen. Der starke ukrainische Tabak schien ihr zu schmecken. So vergingen einige Minuten. “Woher hast Du gesagt, sind die Zigaretten?” -- fragte sie auf einmal. – “Aus der Ukraine.” –  “Wo ist das?” – Wenn man aus der Ukraine kommt, gewöhnt man sich sehr schnell an diese Frage. Da hat sich auch in den letzten sechs Jahren nicht viel geändert. Wir Ukrainer ärgern uns schon gar nicht mehr darüber. Wir haben uns schon lange damit abgefunden, immer erklären zu müssen, nicht nur wo unser Land liegt, sondern auch, daß es überhaupt existiert. “Wissen Sie”, begann ich bereitwillig, “es gab früher die Sowjetunion, und sie hatte 15 Republiken und nach ihrer Zerfall...” “ Wie? Sowjetunion? Was ist das?” Na ja, das war mir auch nicht neu, man nennt halt oft das Land, in dem ich geboren wurde, irrtümlicherweise Rußland, pars pro toto sozusagen,das ist  zwar ärgerlich, aber manchmal bleibt uns nichts anderes übrig, als eben den Begriff, von dem wir uns mit aller Kraft zu distanzieren versuchen, ins Gespräch zu bringen: “Na, wissen Sie, Rußland, man nannte es auch einfach Rußland.” “Rußland? Was ist das? Ist das ein Land?” Diese  Wendung überraschte mich nun wirklich. Zugegeben, ich verkehre hauptsächlich in Akademikerkreisen, aber ich schwätze auch immer gerne mit Leuten in Bahnhöfen und auf der Straße. Und bis dahin war  ich noch keinem begegnet, der nicht wußte, nein nicht wo, sondern was Rußland ist. Ich wurde verlegen und nahm mir ein wenig Bedenkzeit. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu einem absolut verbotenen Mittel zu greifen und das Stichwort zu gebrauchen, bei dem ich mich selbst am meisten ärgere, wenn die Deutschen es automatisch mit meinem Heimatland assoziieren. “Schon mal was von Tschernobyl gehört?” fragte ich.  “Tsche.. Tsche..  Was? Was ist das?”  fragte die neugierige Pennerin.

An dieser Stelle kam mir ein alter sowjetischer Witz in den Sinn: Bei einer Aufnahmeprüfung in Marxismus-Leninismus an der Moskauer Lomonossow-Universität kann ein Abiturient keine einzige Frage beantworten. Die Prüfer versucht ihm zu helfen und stellt immer einfachere Fragen, aber bekommt keine Antwort. Dann fragt er verzweifelt: “Gut, sagen Sie uns bitte, wer war Karl Marx?” –  “Marx? Ich weiß es nicht.” – “Und wer war Lenin?” – “Lenin? Nie gehört.” “Wo kommen Sie denn her?” – fragte der Prüfer. “Aus Urjupinsk.” Da wurde der Prüfer, ein berühmter Professor für Marxismus-Leninismus nachdenklich: “Wie schön wäre es, jetzt alles stehen und liegen zu lassen und für immer nach Urjupinsk zu gehen,” -- dachte er verträumt.

So ging es auch mir: Einen Menschen zu treffen, der nie im Leben das Wort Tschernobyl gehört hatte, kam mir für einen Moment paradiesisch vor. Ich schwieg. Aber das Bedürfnis, mein Heimatland zu erklären, war stärker. Da fiel mir Polen ein. Polen kennt doch jeder! “Polen!” rief ich verzweifelt “Kennen Sie Polen? Wir sind sozusagen direkt daneben.” -- “Polen? Ist das weit? Muß man dorthin mit dem Schiff fahren?” – “Nein, nein! Man kann es sehr schnell mit dem Bus erreichen. Ein Tag mit dem Bus und Sie sind in Polen, noch eine Nacht und Sie sind schon in der Ukraine.” -- “Aha,” sagte die Pennerin und bat mich um noch eine Zigarette. Somit war die geographische Frage geklärt. Ich fühlte mich erschöpft und hatte keine Lust ,die Aufklärungsstunde fortzusetzen. Dagmar war immer noch nicht da. Die Pennerin rauchte. Doch schon reifte in ihrem Kopf die nächste Frage: “Ukraine? Wie ist es dort, bei Euch in der Ukraine?” Ich war endgültig überfordert. Wie wollen Sie einem Menschen, der nie etwas von der Sowjetunion, von Rußland, von der Ukraine, von Polen, und wahrscheinlich, wie anzunehmen war,auch nicht von Lenin, Stalin, KGB, Gorbatschow und Kutschma gehört hat, erklären, wie es bei uns ist. Was weiß sie denn überhaupt? Sie weiß wohl nur das, was sie unmittelbar sieht, dachte ich, und versuchte meine Erzählung dementsprechend zu konstruieren. “Es ist so ähnlich wie hier. Es gibt auch eine alte Innenstadt und  Neubauten, es gibt auch eine Kathedrale, nicht so schön wie das Münster aber auch schön, und es gibt auch ein Rathaus. Es gibt nicht so viel Autos, aber auch Straßenbahnen und Busse. Die Menschen sind arm, aber fröhlich. Sie singen ganz gern und rauchen auch. Und die Zigaretten sind billiger als hier...” Ich weiß nicht mehr, welche Peinlichkeiten ich noch von mir gegeben habe. Die Pennerin hörte aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, schwieg sie noch eine Weile, überlegte etwas und sagte auf einmal: “Was hat du vorhingesagt? Du hast bis Dienstag nur 8 Mark, das ist doch viel zu wenig, brauchst du ein bißchen Geld? Und überhaupt, hast du wo du schlafen kannst ? Sonst komm mit, ich zeige Dir...” Da erschien endlich Dagmar, ich bedankte mich herzlich und hastig und verabschiedete mich.

Seitdem mußten meine Kommilitonen noch ein paar Jahre lang immer wieder staunen, wenn ich in der Mensa von einer Pennerin unbestimmten Alters freundlich begrüßt wurde.. In der letzten Zeit habe ich sie nicht mehr gesehen. Aber ich gehe auch nicht mehr so oft in die Mensa.