Swetlana Boltowskaya.
Kurzgeschichten.
Essay zum Thema Emigration
Herr Beresovskij hat einmal einen Essay über Emigration geschrieben. Er begann so: "Wenn sich ein junger Mann das erste Mal eine Frau hingibt, macht er doch eine neue Erfahrung? Nein, sagt ihr, er hat doch in Bücher schon davon gelesen, Freunde haben ihm davon erzählt... Ja, aber das ist etwas ganz anderes!"
Unsere Praktikantin Natascha
Einmal wurde ein russisches Mädchen aus Groznyj zu uns ins Radio zum Praktikum geschickt. Aber alle Mitarbeiter des Radios waren schrecklich beschäftigt: die Kurden kämpften für die Freiheit von Öcalan, die Italiener entschieden über die Verteilung von Posten, und die Portugiesen bereiteten ihre nächste Sendung vor, und so hat es sich ergeben, daß außer uns Russen eigentlich niemand das neue Mädchen bemerkt hatte. Nur der Nigerianer Tony von der afrikanischen Redaktion riß die Tür weit auf und sagte: "Welcome to Germany!"
Ererbte Starrköpfigkeit
Bekanntermaßen sind Ukrainer sehr starrköpfig. Einmal lief bei einem solchen ukrainischen Mädchen das Studienvisum aus, und die Ausländerbehörde wollte das Visum nicht mehr verlängern. So ungefähr um fünf Uhr nachmittags saßen wir im Café auf dem Hof des Radios, frühstückten und tranken Kaffee. Unsere ukrainische Freundin erzählte: "Könnt ihr euch das vorstellen! Heute morgen - um halb elf am Morgen - hat mich N mit dem Telefon geweckt (das ist der einzige Mensch, der jetzt noch mit dem Visum helfen konnte, Red.=!) Und wißt ihr, was er gemeint hat? Er hat gesagt, daß wir uns morgen um halb zwölf in seinem Büro treffen!"
"Ach was", brachten wir erstaunt hervor, "und was hast du ihm geantwortet?"
"Wie, was ich geantwortet habe? Natürlich habe ich gesagt, daß es unrealistisch ist, weil es sehr früh ist für mich. Er aber, stellt euch das mal vor, war so ein Stuhrkopf, wiederholte ‘halb zwölf’ und hat aufgelegt."
"Ach was", brachten wir erstaunt hervor, "Was wirst du denn jetzt tun?"
" Ich gehe nirgendwo hin. Ich werde schlafen."
"Ach was", wiederholten wir erstaunt, "du bist doch wirklich starrköpfig!"
"Ach das ist doch gar nichts! Mein Papa hat sich mal mit seiner ersten Frau zerstritten, ist aus dem Haus gelaufen und nicht mehr dorthin zurückgegangen. Er hat sie sogar niemals mehr gesehen, obwohl er vorher mit dieser Frau 10 Jahre lang zusammengelebt hatte und sie ein gemeinsames Kind haben!"
"Ach was!", brachten wir erstaunt hervor.
"Aber das ist doch noch gar nichts (im Vergleich mit dem, was dann noch passiert ist)! Während des Bürgerkrieges wurde mein Opa, als er bei der Kavallerie war, mal mit seiner Legion aus Charkiv in eine andere Stadt geschickt. Aber meine Oma hatte keine Lust mitzufahren. Da hat mein Opa einfach ihr Baby mitgenommen. Er hatte für sich entschieden, daß die Oma sich wegen des Kindes so sehr Sorgen machen wird, daß sie selbst nachkommt.
Und was denkt ihr? Meine Oma war so starrköpfig, und sie ist erst recht in Charkiv geblieben, mein Opa aber hat sich bei der Kavallerie so mit dem Baby herumgeschlagen, daß er schließlich selbst zurückgekommen ist!"
Männer in Gefahr
Sascha und Kirill zogen los, um unserer Praktikantin die Stadt zu zeigen. Zuerst gingen sie ins "Strand-Cafe", aber dort war, blöderweise, Frauentag, Freitag. Und mit den Worten "Männer werden nicht bedient" wurden Sascha und Kirill vor Nataschas Augen aus dem Café rausgeschmissen.
"Das ist ja Allerhand...!", wunderte sich unser Mädchen aus Groznyj, "Kerle werden diskriminiert!"
"Ach rege dich doch nicht auf", beruhigten sie ihre Gefährten, "das passiert nur einmal in der Woche, immer Freitags und nur in diesem Café."
Und sie zogen weiter ins "Kommunale Kino", um dort das neue Monatsprogramm zu holen. Aber dummerweise, war zu dieser Zeit im Ko Ki "lesbische Filmwoche". Sascha und Kirill wurden sofort auf die Straße gedrängt.
"Also das ist ja Allerhand!" sagte Natascha wieder, "Kerle...!"
"Denk das nicht!", rechtfertigten sich ihre Gefährten erneut, "das passiert nur einmal im Jahr und nur in diesem Kino."
Aber Natascha wollte ihnen schon nicht mehr glauben.
Natascha und Reiner
Um Geld zu sparen, besorgte man Natascha über Bekannte ein Zimmer bei einem sehr sympathischen Mitarbeiter des Radios, dem Deutschen Reiner. Am Abend rief Natascha hocherfreut bei Vika an:
"Vika! Vika! Stell dir mal vor! Er ist so nett! So zurückhaltend! Er spült sogar sein Geschirr selbst ab! Ich muß unbedingt etwas Gutes für ihn tun. Was meinst du, vielleicht stopfe ich ihm die Socken.?"
Ein anderes Mal rief Natascha empört bei Vika an:
"Also das ist wirklich Allerhand! Reiner hat sich heute wirklich etwas geleistet! Er hat so etwas angestellt ...! Stell dir mal vor ...! Also Allerhand! Er hat sich so etwas herausgenommen! Wir sitzen heute in der Küche, frühstücken, und er sagt zu mir: Natascha, ich verstehe dich nicht, du bist schon seit einem Monat hier und du hast immer noch keinen Freund. Wie kannst du ohne Sex leben? Vielleicht, soll ich dir mal eine Frau zuführen?"
Das Archiv des Radio "Ech"
Einmal wurde unsere Praktikantin Natascha mit einer sehr verantwortungsvollen Aufgabe betraut - sie sollte das Archiv der russischen Redaktion ordnen. Offensichtlich hat sich Natascha nach Kräften bemüht. Das Archiv war bereits zu unserer Lieblingslektüre geworden.
Hier einige Zitate:
Werk: Glockensiel
Autor: Die orthodoxe Kirche
Interpret: Peter und Pauls Festung
Und statt "griechischer Musik" gibt es da "Musik für einen Griechen", statt "der Tod der Pionierin" "Tod den Pionieren". Und eine Sendung hieß einfach nur "Aber das ist ganz und gar nicht so".
Blaue Welle
( Schwul auf Russisch heißt "Goluboj", was eigentlich soviel bedeutet wie "blau")
Einmal entschloß sich die Russische Redaktion, mit der befreundeten Redaktion der "Schwulen Welle" Erfahrungen austauschen und sogar eine gemeinsame Sendung unter dem Titel "Homosexualität in Rußland" zu machen. Und gerade am diesen Tag kam ein Korrespondent einer Sonntagszeitung, um über sie Arbeit zu recherchieren. Einige Stunden schwirrte er im Radio herum, machte in verschiedenen Studios Aufnahmen mit Stativ, war immerzu entzückt und fragte alle Leute aus.
Am Sonntag erschien der versprochene Artikel in der Zeitung. Ganz in der Mitte der Seite war ein großes Bild, auf dem M... aus der Jugendredaktion und eine deutsche Frau die Abendsendung "Info" machten. Unter dem Bild stand: "Russische Redaktion und Schwule Welle machen eine gemeinsame Sendung". Daraufhin wurde M... lange von seinen Bekannten ausgefragt: "Bist du jetzt Russe oder...?
Die ersten DM
Zlata hatte das erste Mal auf dem Markt gearbeitet, wo sie für einen Schwarzwälder Bauern Obst und Gemüse verkaufte. Nach Feierabend stand sie an der Straßenbahnhalterstelle und ließ zufrieden ihre ersten selbstverdienten Märker durch die Finger rieseln: In der linken Tasche war das Kleingeld, in der rechten die Scheine. Und plötzlich kam ihr ein ganz neuer und praktischer Gedanke völlig unerwartet in den Sinn. Zlata dachte bei sich: "Aber diese Bumaschki darf ich nicht tratit’!"
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Swetlana Boltowskaya, Radio ECH, 2000.