Olga Lukoschkina

Sieben Kreise des Konsulates.

 

            Meine Freundin Natalia wohnt in Berlin. Seit 30 Jahren sind wir uns durch die Freude und durch den Kummer naeher gekommen. Unsere Muetter waren noch als junge Maedchen  befreundet. Von den Verwandten in Kiev ist nur Natalias Oma, die 80-jaehrige einsame, fast blinde Frau geblieben.

            Natalia kam nach Kiev fast jedes Jahr, aber jetzt ist es fuer sie viel schwieriger geworden. Sie hat ihre eigene Familie. Und dazu fuerchtet sie, ihr Arbeitsplatz zu verlieren. Zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung Deutschlands hat Natalia mir eine Einladung geschickt. Und ich habe beschlossen, meinem Sohn die Welt zu zeigen.

 

Wie der Kamel durch das Nadelohr

 

            Mit der Einladung aus Deutschland und mit dem Reisepass in der Hand gehe ich stolz zur Visaabteilung des deutschen Konsulates.  Aus der Erfahrung meiner Freunden weiss ich, dass es keine Probleme mehr geben soll. Ich war einfach unglaublich ueberzeugt in meinem Erfolg.

            Neben dem zweistoeckigen Gebaude des Konsulates merke ich schon vom weiten eine grosse Menge Leuten. Ohne zu wissen, was so ein Interesse meiner Landsleuten erweckt hat, und ohne mich so sehr dafuer zu interessieren, gehe ich zu der Pforte. Aber, aber... Von wegen!..

            Kraeftiger Waechter in dem Tarnmantel haelt mich auf und zeigt mir auf den Ausgang. Ohne etwas zu verstehen versuche ich das Ziel meines Besuches zu erklaeren, aber er hoert mir gar nicht zu. Er schuettelt verneinend den Kopf und wiederholt: ”Darf man nicht”. Irgendwelche Versuche etwas ueber die Gruende solches Verhaltens mir gegenueber zu erfahren sind erfolglos. Darum wende ich mich an die Frau, die an dem Zaun steht. Sie erzaehlt, dass ich bei der Beantragung des Besuchervisums einen Visumsantrag, den man hier bekommen kann, ausfullen soll. Danach muss man sich in die Schlange stellen, um ein ”Talontschyk” (Zettelchen) zu bekommen. Durch diese Menge der Leuten bewegen sich die Personen, die bereit sind (nur fuer 10 Hrywna) den Visaantrag auszufuellen. Gleich in der Naehe ist ein Photogeschaeft, wo der Preis fuer ein Photo zehnmal so gross als in der Stadt ist und eine Kopie 6 (!) Mal teuerer ist. Was fuer tolle Burschen in der Visaabteilung arbeiten! Sie verdienen selber und geben den anderen die Moeglichkeit gut zu verdienen.

            Nachdem ich die erste Portion der noetigen Information bekommen habe, stelle ich mich an und versuche, den Rest der esoterischen Wahrheit zu erfahren. Es stellt sich auch heraus, dass wir hier stehen (und manche schon ein Paar Stunden) und auf einen Konsulatmitarbeiter warten. Er wird die ”Talontschik” mit den Nummern und Daten auf unsere Reisepaesse heften. Mit den Bueroklammern! Zu dem vorgeschriebenen Termin muss man in das Konsulat kommen, um die Unterlagen abzugeben. Mein Erstaunen waechst wie der Schneeball mit jeder Neuigkeit. Darum versuche ich zu erfahren wie die Formalitaeten bei der Visaerteilung aussehen. Und ich habe es geklaert.

            Sie haben beschlossen nach Deutschland (egal ob dienstlich oder privat oder aus einem anderen Grund) zu fahren. Zuerst sollen  Sie irgenwelche Verwandte (oder ihre Landsleute, die schon frueher umgezogen sind), Bekannte oder sogar fremde Leute finden. Nachdem Sie die Einladung bekommen haben (in meinem Fall von den Freunden) nehmen Sie Ihren Reisepass in die Hand und beginnen Ihre Reise durch die sieben Kreise der Hoelle. Fuer das eigene Geld und in dem eigenen Land.

            Sie kommen zur Konsularabteilung in der Wolodarskoho-Strasse, am besten vormittags um 8 Uhr. Falls Sie in dieser Zeit arbeiten muessen, ist es Ihr Problem. Dann stehen Sie stundenlang Schlange. Zwischen 12 und 13 Uhr kommt zu der Schlange der Konsulatmitarbeiter und macht mit dem Stepler ein Loch in  ihrem Pass. Dann heftet er ein Zettelchen mit der Nummer (vielleicht ist es eine Tradition wie frueher, als eine Nummer auf dem Arm gebrandmarkt wurde).

            Falls die ”Talontschik” fuer einen bestimmten Tag ausgegangen sind, wird es auch so bleiben. Sie sind selber daran schuld, man muss frueher aufstehen.  Am naechsten Morgen stehen Sie ganz vorne in der Schlange. Ihren ”Vorrang” muessen Sie aber die ganzen 5 Stunden ihres Aufenthaltes hier beweisen. Endlich bekommen Sie den ertraeumten ”Talontschik”, Sie schauen auf das Datum und sind voellig ueberrascht, weil sie erst in zwei Monaten kommen duerfen und dann noch genau an dem Tag, wenn Ihre Einladung auslaeuft. Sie stuerzen sich zum Konsulatbeamten und fragen, ob es nicht frueher geht. Als Antwort hoeren Sie ein hartes”Geht nicht”.

            Nehmen wir an, sie sprechen Deutsch und wenden sich mit derselben Frage an den deutschen Konsulatmitarbeiter, der viel mehr Vertrauen bei Ihnen erweckt. Als Antwort hoeren sie ganz menschliche Erklaerung: ”Warten sie bitte. Um 17 Uhr werden hier nicht so viele Menschen sein und man wird sie einladen wahrscheinlich noch heute Ihre Unterlagen abzugeben.” Sie ueberzeugen sich wieder, dass ”die Auslaender anstaendige Leute sind und unsere sobald sie schon ein bisschen Macht bekommen...” Das wird zum Diskussionsthema fuer die naechste halbe Stunde.

            Nachdem Sie bis zum Abend gewartet haben (manchmal muss man auch im Wind und Regen stehen), gehen Sie doch traurig nach Hause. Unwillkuerlich ensteht in Ihrem Kopf die Frage: ”Und wie loesen dieses Problem die Leute, die in den naechsten Tagen in Deutschland sein sollen?”

— Sie kaufen das Visum.

— Wo?

— In den Reisebueros.

— Was kostet es?

            Die Antwort gibt einer aus der Schlange, der die Fahrkarten fuer einen Bus nach Deutschland verkauft und als Nebenbeschaeftigung noch die Visaantrage ausfuellt, photografiert, und noch eine Reihe der nuetzlichen Dienste anbietet: ”250 Dollar”. Sobald er die Verlegenheit in Ihrem Gesicht sieht, gibt er sofort einen Rat: ”Kommen sie doch morgen um 7.30 Uhr. Falls es nicht so viele Leute mit ”Talontschyk” fuer diesen Tag gibt, werden sie schon um 8.00 Uhr herein kommen duerfen. Falls doch nicht, dann die  naechste Portion erst um 15.00 Uhr. Und dann ist es schon eine Lotterie, weil der Konsulatmitarbeiter selber entscheidet, wer in das Konsulat hereindarf. Das heisst, wenn Ihr Gesicht nicht ganz sympatisch fuer diesen Beamten ist, koennen sie noch sehr lange in der Kaelte stehen.

 

Unerwartete Hilfe

 

            Ich habe Natalia angerufen (Gott sei Dank, fuer die Anrufe braucht man noch kein ”Talontschyk”) und mit der traurigen Stimme ”die ganze Wahrheit” erzaehlt. Und ein Wunder ist geschehen! Am naechsten Tag klingelte bei mir zu Hause das Telefon und die Konsularmitarbeiterin berichtete mir mit der netten Stimme, das ich morgen in der Visaabteilung die Unterlagen abgeben darf.

            Ich wurde hier mit allen Ehren empfangen! Fast ”wir haben auf Sie die ganze Ewigkeit gewartet!”. Es stellt sich heraus, dass die hier auch nett sein können, dass sie laecheln können, etwas geduldig erklaeren, mit Furcht das Geld entgegennehmen...

            Ich rufe wieder Natalia an: ”Womit hast du Ihnen gedroht?”

”Ich habe einfach ein Fax geschickt, in dem ich gebeten habe, dich nicht aufzuhalten und geschworen habe, dass du nicht fuer immer in Deutschland bleiben wirdst”. Hatte ich eigentlich auch nicht vor.

            Also, ist der erste Kreis hinter mir, die Unterlagen sind abgegeben und ich soll in einer Woche kommen und das Visum abholen.

 

Alles beim alten

            Nach einer Woche bin ich wieder an der Pforte. Die Menge von Leuten (ungefaehr 300 Menschen) draengt sich zum Eingang und vernichtet alles auf ihrem Weg. Die Mitarbeiter und die Wache versuchen sie irgendwie aufzuhalten und zu organisieren, und versichern, dass alle Eingeladenen Ihre Unterlagen bekommen werden. Es hilft aber nicht und der Hauptwaechter nutzt die letzte Argumente aus: ”Solange nicht alle in eine Kolonne zu zweit sich hinstellen werden, wird keiner auch herein kommen duerfen”, schreit er. Die Leute gehorchen diesem ”Befehl” (es liegt wahrscheinlich auch an dem genetischen Gedaechtnis). Ich schaffe es in den ersten Reihen zu stehen. In Gedanken lobe ich mich fuer solche Geschicklichkeit. Wir duerfen zu zweit herein kommen. Der Deutsche mit kurz geschnnitten Haaren studiert schon auf dem Konsulatgelaende sehr aufmerksam den Inhalt von unseren Taschen. Ploetzlich wendet er sich an mich: ”Gehen sie bitte zurueck und geben sie ihre Tasche in der Garderobe ab. Danke.”

            O-la-la! Ich habe mich so nach vorne gestrebt und habe meine vorteilhafte Position und 4-5 Stunden Zeit verloren. Nein, nur nicht das! Erst bitte ich und dann erklaere ich immer hartnaekiger, dass es nur eine Tasche ist, die ein bisschen groesser als Format A-4 ist. Sie ist nur fuer die Unterlagen, aber es gibt dort nichts kriminelles und zeige den Tascheninhalt. Der Deutsche ist aber sehr standhaft und sagt: ”Nein.” Ich jammere ein bisschen und er laesst alle Leuten mit einer Geste stehen: ”Stehen bleiben. Diese Frau gehorcht mir nicht. Solange sie nicht geht, werde ich keinen hereinlassen.” Ein hervorragender psychologischer Trick. Im naechsten Moment dreht sich die ganze Menge von Leuten zu mir und macht sich wie ein boeser Stier auf den Weg zu mir. Ich habe Angst vor der Rache  und muss auf so einen guten Platz verzichten.

            Ich ging, aber sagte ihm, was ich von ihm halte: ”Bei Ihnen sind nicht europaeische, sondern faschistische Methoden”. Das hat ihn verletzt. Er lief zur Wache und schrie: ”Diese Frau nicht reinlassen. Ich lasse nicht zu, dass sie Ihre Unterlagen abholt.”

            Ich habe zur Wache gesagt: ”Leute, er ist genau so ein Waechter wie ihr alle und hat hier nicht anzuordnen, wer die Unterlagen bekommen soll und wer nicht. Was gibt ihm das Recht hoeher als wir zu sein?”. Sie zuckten mit den Schultern. Und der eine gibt mir den Rat: ”Er wird Sie wirklich nicht reinlassen. Fragen sie jemanden aus der Schlange, ob er fuer sie das Visum abholen kann”

 

Mit der Angst geboren

                        Ich habe gesehen, wie die Leute beim Warten auf Ihr Visum zittern: ”Bekommt man - bekommt man nicht?” und ich habe verstanden, dass es noch eine Pruefung ist. Was fuer eine Angst haben sie, abgewiesen zu werden! Sie dulden diese Unverschaemtheit und Ungerechtigkeit. Und ich dachte: ”Wie lange werden wir so abhaengig und gehorsam sein, wie lange werden wir diese Demuetigungen annehmen und den Kopf mit der Asche streuen? Und wofuer werden uns die anderen respektieren?”

 

P.S.: Sie werden lachen, aber die Situation in der franzoesischen Botschaft in Kiev ist sehr aehnlich. Die einzige Ausnahme ist nur, dass ”der Waechter”, der in Wirklichkeit ein sehr normaler Mensch ist, die die durch das tagelange Schlangenstehen muede Menschen in den Kaefig ohne Stuehle reinlaest, wo sie noch ein Paar Stunden warten werden, um an das Fensterchen mit den Konsulatmitarbeitern zu kommen, ganz korrekt ist. (Er ist wahrscheinlich der Sohn der sowjetischen Emigranten, weil er kein Akzent und einen entsprechenden Namen hat.)

            Also, um die EU-Grenze zu passieren, muessen wir die Verachtung dulden, die vielen Hindernisse ueberwinden und viel Zeit verlieren. Und die europaeische Sozialkutur in ihrem groben Gesicht erkennen.

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Aus der Zeitschrift “PIK”,  Übersetzt von Halia Tomkiv